»Praxis und Privatleben sind sehr gut vereinbar«
Dr. med. Elisabeth Martin arbeitet seit rund 15 Jahren in einer Berliner Praxisgemeinschaft mit neun Hausärztinnen und -ärzten. Wie das funktioniert, was sich in den vergangenen Jahren im Praxisalltag verändert hat und wieviel Zeit ihr für Hündin Lucy bleibt, erzählt die niedergelassene Allgemeinmedizinerin im Interview.
Sie haben Ihre Karriere mit einer Ausbildung als Krankenschwester angefangen. Wie kam es, dass Sie nach der Ausbildung Medizin studiert haben?
Jedes Mal, wenn meine Fragen in der Ausbildung in die Tiefe gingen, hieß es: Das muss man als Krankenschwester nicht wissen. Das hat mich total gewurmt. Da ich die Medizin immer als unglaublich spannend empfunden habe, war für mich irgendwann klar, dass ich sie studieren werde.
Was verbinden Sie mit Ihrer Studienzeit?
Ich bin keine typische Studentin gewesen, weil ich während des ganzen Studiums eine Halbtagesstelle als Krankenschwester hatte. Dadurch bin ich immer nur zwischen der Stelle und der Uni hin- und hergehüpft. Es war trotzdem eine tolle Zeit, denn es war eine sehr effektive Art zu studieren und besser, als nur aus Büchern zu lernen. Was ich im Krankenhaus gesehen habe, hat mir in Unikursen bei der Herleitung geholfen – und umgekehrt.
Fallen Ihnen dazu konkrete Beispiele ein?
Da gibt es natürlich viele. In der Uni wurden zum Beispiel der Herzinfarkt und das EKG in der Theorie erklärt – und dann steht man plötzlich in der Rettungsstelle und weiß, was und warum es zu tun ist.
Vor rund 15 Jahren haben Sie sich in der Praxisgemeinschaft am Senftenberger Ring niedergelassen. Was hat sich seitdem im Arbeitsalltag verändert?
Ich empfinde es so, dass viel mehr Patienten zu uns kommen. Der Durchlauf ist höher, weil vieles auf die ambulante Medizin geschoben wird. Die Liegezeiten in den Krankenhäusern sind kürzer, Patienten werden früher entlassen und sind stärker auf die ambulante Versorgung angewiesen. Zudem ist der Arbeitsaufwand größer – etwa durch mehr Papierkram.
Wie darf man sich denn einen typischen Tag in ihrer Praxis vorstellen?
Es ist immer viel zu tun. Erst brauche ich ein bisschen Vorlaufzeit für die Verwaltung und schaue zum Beispiel Rezepte durch, dann öffnet die Praxis und es kommen viele Patienten, die versorgt werden müssen – an einem Vormittag können das schon mal 40 Patienten sein. Am Ende der Sprechstunde braucht man dann wieder eine Stunde für den Papierkram.
Hält diese Taktung junge Ärzte davon ab, sich niederzulassen?
Wir sind Lehrarztpraxis der Charité Berlin und ich höre von Studierenden oft die Frage: »Wie schaffen Sie das?« Aber das ist nicht das Problem. Mit der Erfahrung lernt man, solche Situationen zu lösen. Ein anderes Argument höre ich dagegen oft, wenn ich mit jungen Medizinern spreche: Die Angst vor dem wirtschaftlichen Risiko.
Vor was denn genau?
Viele denken, dass die Niederlassung mit großen Schulden verbunden ist und der Verdienst eines Allgemeinmediziners nicht ausreicht, um eine Familie zu ernähren. Das kann ich bis zu einem gewissen Grad verstehen, aber es hat sich in meinem Leben nun wirklich nicht bewahrheitet. Ich habe einen großen Bekanntenkreis, von insbesondere Medizinerinnen, und ich glaube, dass wir uns alle nicht beklagen können. Zwar fahren wir keinen Porsche und verbringen unsere Zeit nicht auf dem Golfplatz, aber können gut von unserer Arbeit leben.
Was sagen sie den jungen Medizinern, wenn sie ihre Sorge vor den Risiken äußern?
Ich verweise auf den großen Gestaltungsspielraum. Leute, die am Scheideweg ihres Lebens stehen, sollten sich klarmachen, was für eine Chance die Niederlassung ist. Man hat wirklich die Möglichkeit, das Berufsleben zu gestalten.
Selbst arbeiten Sie in einer Praxisgemeinschaft mit neun Ärztinnen und Ärzten. Warum haben Sie sich für diese Form der Niederlassung entschieden?
Ich bin kein Einzelkämpfer, sondern eher Teamplayer. Es ist ausgesprochen hilfreich, einfach mal eine Tür weiterzugehen, wenn man nicht weiterkommt, und nach einer Zweitmeinung zu fragen. Die Kommunikation und die Möglichkeit, Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen, ist unheimlich wichtig. Bei uns hat zum Beispiel jeder seinen eigenen Bereich. Das reicht vom Qualitätsmanagement über die Organisation von Praxisevents bis zur Personalbetreuung.
Alle neun Ärzte der Praxisgemeinschaft sind hausärztlich orientiert. Wie funktioniert das?
Jeder hat seine Räumlichkeit und seine Patienten. Wir sind grundverschieden von unserem Wesen und unseren Ansätzen. Wir haben Ärzte, die naturheilkundlicher orientiert sind, und reine Schulmediziner. Zudem kommt ein Arzt ursprünglich aus der Kardiologie, ein anderer aus der Gastroenterologie. So hat jeder sein Steckenpferd, und die Patienten gehen an den Tresen und sagen, zu welchem Hausarzt sie wollen.
Sie haben unter dem Dach der Praxisgemeinschaft eine Gemeinschaftspraxis. Wie darf man sich das vorstellen?
Wie eine ganz normale Gemeinschaftspraxis mit eigenen Patienten. Ich habe schon kurz nachdem ich mich niedergelassen habe Weiterbildungsassistenten beschäftigt. Als die Arbeit dann irgendwann zu viel wurde, habe ich eine dieser Assistentinnen, mit der ich mich super gut verstanden habe, gebeten, bei mir zu bleiben. Und dann haben wir noch einen zweiten Sitz gekauft und führen die Praxis seitdem als Gemeinschaftspraxis in einer Praxisgemeinschaft.
Aus welchem Grund haben Sie sich für die Allgemeinmedizin entschieden?
Das hat sich einfach so ergeben. Durch meine Zeit als Assistenzärzten in der Gynäkologie und meine Erfahrungen in der Chirurgie, Inneren Medizin und Intensivmedizin war meine Ausbildung sehr breit. Ich dachte einfach, dass das gut passt. Und ich wusste, dass ich Chirurgie nicht länger machen konnte.
Warum nicht?
Das war auf Dauer ganz schlecht mit der Familie vereinbar und ging wirklich an die Substanz. Der Hauptgrund dafür, dass ich mich der Allgemeinmedizin zugewandt und die Klinik verlassen habe, waren die Nachtdienste. Auf der Intensivstation habe ich lange Zeit im Dreischichtbetrieb gearbeitet. Irgendwann konnte ich keine Nachtdienste mehr machen, weil ich tagsüber kaum Schlaf gefunden habe und ich nachts einfach nicht fit war. Das ging so weit, dass ich teilweise schon zwei Tage vorher Horror vor der Nachtschicht hatte.
Hat sich die Situation nach der Niederlassung entspannt?
Ja, das geht viel besser, weil man als Niedergelassener selber entscheidet, wie und wie viel man arbeitet.
Sie haben eine Hündin, die jeden Tag Bewegung an der frischen Luft braucht. Wie gut verträgt sich das mit den Praxiszeiten?
Praxis und Privatleben sind sehr gut vereinbar. Lucy (ihre ungarische Hündin, Anm. d. Red.) ist mir ja nicht zugelaufen, sondern ich habe mich bewusst für sie entschieden und wusste, dass sie mir guttun würde. Da ich nur vormittags oder nur nachmittags arbeite, habe ich Zeit, gehe morgens und abends mit ihr kürzere Runden und einmal am Tag zwei Stunden durch den Wald.
Welcher ist der größte Unterschied zwischen der Arbeit auf dem Land und der in einer Großstadt wie Berlin?
Der Unterschied ist der, dass der Städter zum Arzt einen viel schnelleren und unkomplizierteren Zugang hat. Da die Wege auf dem Land wesentlich weiter sind und Patienten deshalb nicht so schnell zum Arzt gehen, behandelt der Landarzt oft kränkere Patienten. Ich habe mal in einem Krankenhaus in Henningsdorf in der inneren Medizin gearbeitet. Damals war ich wie vom Donner gerührt, wieviel kränker die Patienten waren, die aus dem ländlichen Einzugsgebiet kamen.
Was würden Sie Nachwuchsmedizinern raten, die sich nicht sicher sind, ob sie sich auf Allgemeinmedizin spezialisieren sollen?
Wenn man ein großes Organisationstalent ist und eine breit gefächerte Ausbildung haben möchte, ist Allgemeinmedizin das Richtige. Ich halte Allgemeinmediziner für Weichensteller. Wir interpretieren die Befunde der Fachärzte und sagen, was als nächstes zu tun ist. Wenn man so will, sind wir für den Leitfaden zuständig, deshalb sollte die Ausbildung eines Allgemeinmediziners so breit wie möglich sein.