»Es ist wichtig, die eigenen Leistungen wertzuschätzen«
Steve Hardt verfolgt mit ganzer Kraft seinen Traum, Arzt zu werden – wie so viele Medizinstudierende. Doch das Besondere bei dem 29-Jährigen ist: Er hat einen Hauptschulabschluss. Wie er es trotzdem schafft, sich den Herausforderungen im Studium zu stellen, erzählt er im »Lass dich nieder!«-Interview.
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Steve Hardt gehört zu den rund tausend Medizinstudierenden in Deutschland, die es ohne Abi an die Uni geschafft haben. Der 29-Jährige konnte sich auf den Studienplatz Medizin bewerben, weil er nach der Hauptschule zwei Ausbildungen absolviert hat – zum Medizinischen Fachangestellten (MFA) und anschließend zum Krankenpfleger. Seine Berufserfahrung war entscheidend dafür, dass er den Studienplatz an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz erhalten hat.
Was hat Sie dazu bewegt, Medizin studieren zu wollen?
Es gibt zwei Aspekte. Der erste Aspekt ist, dass mir früh klar war, dass ich einen sozialen Beruf ausüben möchte, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht und in dem ich etwas bewirken kann. Darum bin ich in die Pflege gegangen. Schnell habe ich in der Ausbildung und bei der Arbeit bemerkt, dass mein Interesse an der Medizin enorm groß ist.
Der zweite Aspekt ist, dass ich auch den großen Wunsch verspürt habe zu studieren. Doch die Rahmenbedingungen dafür waren sowohl im schulischen als auch im privaten Bereich nicht gut. Ich besuchte die Hauptschule und dort wurden wir irgendwann gefragt, welchen Beruf wir erlernen möchten. Ich habe gesagt, ich will Arzt werden. Die Lehrkräfte und Mitschülerinnen und -schüler haben mich belächelt und ausgelacht. Da ich mit meiner Familie oft umgezogen bin, hatte ich kaum Freundschaften, die eine Unterstützung für mich gewesen wären. Mit 16 Jahren habe ich schließlich meinen Hauptschulabschluss gemacht und begann eine Ausbildung zum MFA.
Sie haben eine zweite Ausbildung zum Krankenpfleger angeschlossen. Und danach führte Sie Ihr Weg an die Universität?
Ja, ich habe sowohl die erste als auch die zweite Ausbildung erfolgreich abgeschlossen – obwohl man mir zuvor in der Schule gesagt hatte, für eine Ausbildung in der Krankenpflege hätte ich nicht das Zeug. Als ich mein Examen in der Tasche hatte, habe ich mich gefreut und mich aber auch gefragt, war es das jetzt? Ich habe eine Zeit lang gearbeitet, doch mein früherer Traum, Medizin zu studieren, ließ mich nicht los. Jetzt wollte ich es wirklich mit dem Studium versuchen. Ich habe mich über die Zugangsvoraussetzungen informiert und mich dafür entschieden, die Aufstiegsweiterbildung zu machen, was im Prinzip ein Abitur-Äquivalent ist. Das habe ich mir an der Johannes-Gutenberg-Universität anrechnen lassen und mich über Hochschulstart beworben – und den Studienplatz bekommen.
Wie hat sich der erste Tag für Sie an der Uni angefühlt?
Ich hatte gemischte Gefühle. Vor dem Semesterstart gab es eine Kurswoche für Studierende, die kein Abitur haben. Man holt Stoff in den Kernfächern wie Mathe, Chemie und Physik nach. Das war mein erster Berührungspunkt mit der Uni. Damals nur digital, es war in der Corona-Zeit. Aber die Vorfreude war da. Es gab eine Ansprache des Präsidiums, darüber habe ich mich wahnsinnig gefreut, denn das hat mir verdeutlicht: Ich bin wirklich an der Universität. Aber dann kamen die ersten Kurse und damit die Verzweiflung. Ich war überfordert und fühlte mich wie ein Hochstapler, der hier zufällig reingerutscht ist. Die erste Woche war der Horror. Aber zum Glück begannen bald erste Kurse in Präsenz. Ich habe vor Ort bemerkt, dass sich viele Studierende mit dem Stoff schwertun, auch die mit Abi.
Und dann bin ich das erste Mal durch Klausuren in den naturwissenschaftlichen Fächern gefallen. Da dachte ich, ich kriege das nie hin. Aber ich hatte zum Glück Kommilitonen und Kommilitoninnen, die mich wieder aufgebaut haben. Und ich hatte meine Mentorin Gilda Langkau von der Stiftung Begabtenförderung, die mir eine sehr große Hilfe war. Sie hat mich gecoacht und mit mir intensiv an meinem Selbstbewusstsein gearbeitet.
Ab diesem Zeitpunkt wuchs die Überzeugung, dass ich es schaffen werde. Ich weiß, ich muss mehr Stunden investieren als andere. Ich bin auch noch mal durch Physik gefallen. Aber ich habe weitergemacht, mir Unterstützung geholt und schließlich bestanden. Mittlerweile bin ich der Meinung, ich gehöre hierhin. Es ist etwas Besonderes, mit einem mittleren Hauptschulabschluss Klausuren an der Uni zu bestehen. Es ist wichtig, die eigenen Leistungen wertzuschätzen, den eigenen Weg zu gehen.
Wo stehen Sie jetzt in Ihrem Studium?
Ich bin in den Endzügen der Vorklinik und habe noch große Herausforderungen vor mir. Aber ich habe mich dazu entschieden, alles Schritt für Schritt zu machen. Ich will die Dinge genau verstehen. Ich finde, das ist eine gute Vorbereitung auf das Physikum.
Woher nehmen Sie die Kraft für diesen anstrengenden Weg? Haben Sie einen Ausgleich zu der vielen Arbeit?
Mir einen Ausgleich zu schaffen, lerne ich gerade. Darauf habe ich früher nie geachtet und war oft ausgebrannt – vor allem nach Klausuren. Auch da hat mir meine Mentorin Gilda Langkau sehr geholfen. Sie hat mir im allerersten Semester gesagt, dass es hilfreich ist, sich ein inneres Wunschbild von sich zu erschaffen und das im Kopf zu verankern. Mein Bild ist: Ich bin Neurologe und Oberarzt auf einer Station und bewirke etwas. Ich tue genau das, was ich will, mit Leidenschaft und Freude: Ich helfe Menschen. Vielleicht bin ich zusätzlich in der Forschung tätig: neurologische Themen wie Alzheimer und Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) interessieren mich sehr. Mein Vater hatte ALS und ist daran früh verstorben. Da war ich 14 Jahre alt. Wer weiß, vielleicht kann ich später einmal etwas in der Forschung bewirken.
Ich habe für mich einen Bewältigungsmechanismus gefunden, wenn es mir nicht gut geht oder ich zweifle. Ich gehe dann in eine Art Tagtraum und versuche, mich auf dem Podium mit meiner Examensurkunde zu sehen. Ich freue mich und halte meine Approbation in den Händen und weiß, ich habe mein Ziel erreicht.
Haben Sie eine Idee, was Sie als erstes tun würden, wenn das der Fall wäre?
Ich würde irgendwo hinfahren, wo niemand ist, auf einen Berg vielleicht und würde einfach mal ganz laut schreien. Alles rauslassen. Ein Schrei, der zeigt: Ich habe es geschafft!
Können Sie sich auch vorstellen, sich niederzulassen?
Ich kenne den Klinikalltag sehr gut und von daher steht für mich fest, dass ich mich auf jeden Fall niederlassen möchte. Ich werde meine Assistenzzeit machen und vielleicht als Facharzt noch eine Zeit lang in der Klinik bleiben. Aber mein langfristiges Ziel ist es, in die ambulante Versorgung zu gehen und einen geregelten Alltag zu haben.
Über die Autor:innen
Das Redaktionsteam der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist die Dachorganisation aller 17 Kassenärztlichen Vereinigungen und vertritt die Interessen von Vertragsärzt:innen und Psychotherapeut:innen auf Bundesebene. Auf »Lass dich nieder!« gibt das Redaktionsteam Medizinstudierenden nützliche Tipps rund ums Studium und teilt Erfahrungen und Fakten rund um die ärztliche Niederlassung.